Sozialfotografie – eine Methode zur Sozialraumerkundung

Im Arbeitsfeld der Kulturellen Bildung setzen wir uns tagtäglich mit der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen auseinander. Das liegt daran, dass ihnen oft selbst noch ein Gefühl dafür fehlt, ihre Umwelt, soziale Wirklichkeit und ihre damit verbundenen Gefühle bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und auszudrücken. In unserer bewegten, durch digitale Medien geprägten westlichen Gesellschaft ist der Erwerb dieser Fähigkeiten essentiell, um Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, politisch, gesellschaftlich und kulturell teilzuhaben und ihre Umwelt und Zukunft aktiv mitzugestalten.

Von Lena Morgenstern

Sozialfotografie als Methode der Sozialraumerkundung bietet eine kreative Möglichkeit, sie an diese Fähigkeiten heranzuführen, da ihnen gleichzeitig das Gefühl gegeben wird, dass sie mit ihrer Umwelt interagieren und sie beeinflussen können. Sie setzt also an einem wichtigen Wirkungsziel Kultureller Bildung an. Nämlich dem, der kulturellen Teilhabe. 

Starten wir erstmal mit einer Begriffsklärung. Sozialraumerkundung als eine Methode ermöglicht es, einen Sozialraum unter einem gewissen Gesichtspunkt zu erkunden, zu analysieren, Bedarfe im Stadtteil zu ermitteln, erheben und festzustellen. Der Sozialraum, seine Bewohner, Schlüsselpersonen und Institutionen können dabei kennengelernt und mit anderen Sozialräumen verglichen werden (Krisch, 2009). Dabei geht es nicht darum, die Forschenden Kinder und Jugendlichen von etwas zu überzeugen oder ihnen die ‘Realität’ zu erklären, sondern um ihre eigene Lebenswirklichkeit, die Auseinandersetzung damit und ihre eigene Verortung als Teil der Gesellschaft. Folglich sind die Ergebnisse einer Sozialraumerkundung individuell und Wirklichkeit als etwas hoch subjektives zu verstehen und wertzuschätzen. Für die Kulturelle Bildung bedeutet gerade diese Begriffserklärung, dass Sozialraumerkundung mithilfe einer Ästhetischen Forschung stattfinden kann, welche das bewusste Wahrnehmen, Reflektieren und Ausdrücken von Sinneseindrücken schult. Ästhetische Forschung nutzt nämlich vorwissenschaftliche Verfahren wie das Sammeln, Systematisieren und Ausstellen, um unterschiedliche Phänomene der Natur und des Sozialen mit ästhetischen Mitteln zu dokumentieren, zu analysieren und auszuwerten mit dem Ziel Lernenden die Möglichkeit zu geben, ihren Lernprozess selbst zu gestalten und darzustellen (Penzel, 2015). Der Spaß und das Ausleben von Kreativität dürfen dabei nicht fehlen. 

Eines dieser vorwissenschaftlichen Verfahren, das Fachkräfte aus der Kulturellen Bildung nutzen können, ist Sozialfotografie für die Ästhetische Forschung mit Medien. Sie lässt sich als eine Methode der kreativen Medienarbeit verstehen, welche handelndes Lernen als oberstes Ziel versteht. Damit fördert sie Eigeninitiative und Selbstbewusstsein, ein Bewusstsein über gesellschaftliche Wirklichkeit und Veränderbarkeit der Welt, steigert die Problemlösekompetenz.

Kinder und Jugendliche gehen bei  der Sozialfotografie  mit offenen Augen durch ihre Welt, ihren Stadtteil, ihre Orte und vielleicht auch Orte, von denen sie sich ausgeschlossen fühlen. Das kann davon abhängig sein, welches Thema die Ästhetische Forschung hat, als deren Methode die Sozialfotografie dient. Die Kinder und Jugendlichen bekommen durch das Medium Foto die Möglichkeit, ihr Lebensumfeld von innen heraus äußerlich zu betrachten. Einfacher ausgedrückt, lernt ein*e Betrachter*in nicht nur etwas über das Motiv, sondern auch etwas über die Einstellung und Wahrnehmung der fotografierenden Person (Schröder, 2006). Im Kontext der Kulturellen Bildung und der Ästhetischen Forschung  geht es hier zunächst weniger darum, etwas über die Lebenswelt der Kinder  und Jugendlichen zu lernen, als dass die Kinder und Jugendlichen im Prozess etwas über ihre eigene Wahrnehmung und Empfindung lernen. Klassisch für eine Ästhetische Forschung sammeln sie zunächst Material in ihrer Umgebung fotografieren und entwickeln eine Ästhetik des Alltags, die in verschiedenen Formaten der Fotografie, wie Polaroid, Handyfotografie oder Spiegelreflex Ausdruck finden kann. Wichtig ist dabei, dass Ästhetik nichts mit Schönheit zu tun, sondern damit die eigene hoch individuelle Wirklichkeit darzustellen und für Außenstehende erfahrbar zu machen (Lernhelfer, 2010). Durch die Sozialfotografie wird die fotografierende Person, in unserem Kontext also die Kinder und Jugendlichen, zu Autor*innen einer Erzählung über ihre Lebensumstände, gesellschaftliche Missstände und soziale Ereignisse (Schröder, 2006). Diese Erzählung kann im Sinne der Forschung durch anderes physisch zusammengetragenes Material ergänzt und erweitert werden. Mithilfe dieser verschiedenen Medien erforschen Kinder und Jugendliche nicht nur selbstwirksam sich selbst, sondern lernen sich selbst wahrzunehmen, zu reflektieren und welche Bedürfnisse sie in ihren Sozialräumen haben, verwirklichen können und welchen nicht nachgegangen werden kann. Die Fotografien können zusätzlich als Sprachrohr dienen, um nach außen hin auf diese Bedürfnisse hinzuweisen. Damit bieten sie eine kreative Basis für Kinder und Jugendliche, aktivistisch in ihrem Stadtteil tätig zu werden. Ein schönes Beispiel bietet participART bereits mit dem art.space der Juxbude “Holiday Club Los buenos Bandidos”.

Bleibt zum Schluss nur noch die Frage zu klären, wo die Medienpädagogik ins Spiel kommt. Es wurde in diesem Beitrag bereits kurz erwähnt, dass sich Sozialfotografie durchaus auch als Methode aktiver kreativer Medienarbeit verstehen lässt. Sie fordert zum einen die Kinder und Jugendlichen aktiv dazu auf, sich das Medium Foto und die damit verbundene Technik zu eigen zu machen, um ihrer Wahrnehmung ihrer Lebenswelt Ausdruck zu verleihen. Sie lernen daher nicht nur, wie die Technik, welche je nach Möglichkeiten der Fachkräfte gewählt werden kann, funktioniert, sondern schulen auch ihre Medienkompetenz nach Baacke als Ganzes. Eine weitere Fähigkeit, die dabei ausgebildet wird, ist Bildkompetenz. Bildkompetenz beschreibt die Fähigkeit, Bilder in ihrem (historischen) Kontext zu betrachten und ihnen sinnstiftend eine Bedeutung zuzuweisen (Bering, 2020). Gerade im Umgang mit unserer zunehmend digitalisierten Welt, in der Bilder, Informationen und Inhalte von Falschinformationen und Künstliche Intelligenz durchzogen sind, handelt es sich dabei um eine essentielle Fähigkeit.  

Die Kulturelle Bildung findet also in der Sozialfotografie eine Methode, die sich nutzen lässt, um handelndes Lernen, gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe im Sinne der Ästhetischen Forschung zu unterstützen. Für uns Fachkräfte aus Kunst, Kultur und Pädagogik heißt das also wieder mehr Mut zur Kamera! 

Quellen

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